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  • AutorenbildBirte Gutmayer

Tippgeberei als Chance nutzen

Nachahmen ist der leichteste Weg zur Erkenntnis! Die besten Kletterer/Kletterinnen sind offen für Verbesserungsvorschläge und erweitern dadurch stetig ihr Bewegungsrepertoire und ihre Bewegungsausführung.

Visualisierung der Beta von "Dragee Fuca" in La Saume

Klettern, Zuschauen, Analysieren, Ausprobieren, Verbessern, Klettern

Beim Klettern oder Bouldern sind wir selten allein, sondern werden oft vom Partner oder einer kletternden Community beobachtet und von diesen beeinflusst. Ob Boulder oder Route, beide bieten uns eine Bühne, auf der wir unser Können unter Beweis stellen dürfen. Im Idealfall nutzen wir die motivierenden Zurufe als Ansporn für neue persönliche Bestleistungen und profitieren von den Stärken und Tipps anderer. Grundsätzlich gilt es die Tipps anzunehmen, auszuprobieren und sich zu entscheiden. Doch das fällt nicht immer leicht...


Zur Vereinfachung des Textes und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen sind die tippgebenden Personen Männer, obwohl es auch Fälle geben wird, in denen das jeweils andere Geschlecht die hier beschriebenen Rollen einnimmt.


Respektvolle Worte zur passenden Zeit von der richtigen Person

Manche Worte und gut gemeinte Tipps haben bei mir nicht immer den positiven Effekt, den der Sender anstrebt. Unter Umständen können sie demotivierend und verstörend auf mich wirken. Irritiert bin ich zum Beispiel, wenn ich während einer Pause, in offensichtlich leichten Passagen oder in wenig erfolgversprechenden Versuchen angefeuert werde. Ungefragte Tipps stoßen bei mir oftmals in ähnlicher Art und Weise auf innere Ablehnung. Während das Anfeuern in einer überzeugenden Art und Weise und zum richtigen Zeitpunkt erfolgen muss, hängt hingegen die Annahme gut gemeinter Ratschläge zusätzlich davon ab, welche klettertechnische Kompetenz ich der tippgebenden Person zuschreibe.


Tippgeberei gleicht Angeberei?! Wer kennt es nicht?! Du boulderst vor dich hin, probierst aus, tüftelst herum. In deinem Rücken spürst du Blicke eines Boulderers, der um dich herum schleicht und auf den richtigen Moment wartet, um dir einen klitzekleinen, aber entscheidenden Tipp zu geben. Plötzlich steht er neben dir und offeriert dir, vollkommen ungefragt, dafür sehr überzeugt, seine Lösung für den Boulder. Etwas perplex drehst du dich zu ihm um und würdest ihm am liebsten an den Kopf werfen: “Sag mal, hab ich dich nach deiner Meinung gefragt? Ich komm’ schon zurecht. Vielen Dank!” Stattdessen reißt du dich etwas zusammen und sagst: “Danke für den Tipp. Probier’ ich vielleicht mal aus." Du suchst dir kurz darauf einen anderen Boulder, bei dem du wieder ungestört tüfteln kannst. Solche oder ähnliche Situationen habe ich selbst mehrfach in der Halle oder auch am Fels erlebt. Am Fels ist es meist schwieriger, aus solchen Situationen zu fliehen. Ein Ortswechsel kommt eben selten in Frage. Da es leichter ist, sich selbst zu ändern anstatt andere, bleibt einem oftmals nichts anderes übrig als zu lernen, mit ungefragten Tipps umzugehen. Mehr zum eigenen Umgang folgt später. Erst einmal möchte ich ergründen, wie es zu solch negativen Reaktionen auf angeberisch wirkende Tipps kommt.


Der Grund für den Ärger

Nicht jedes Mal, wenn mir jemand einen Tipp gibt, reagiere ich mit Skepsis oder gar Ablehnung. Bei manchen Personen bin ich sogar froh um ihre Hilfe und nehme ihre Tipps gerne an. Doch warum kann ich andere Mitkletternden wiederum in diesem Moment zum Mond schießen?

Vielleicht meint der Tippgebende es wirklich nur gut und möchte mir helfen, schneller zum Ziel zu gelangen. Doch unterbewusst macht er deutlich, dass ich mich auf dem Holzweg befinde und mit dem Problem offensichtlich überfordert bin. Der Samariter ist gleich zur Stelle, um mich vor tiefer Verzweiflung, unnötigem Kraftverbrauch und unzähligen Fehlversuchen zu bewahren. Was er allerdings nicht bedenkt ist, dass ihre Tippgeberei mein Kletterkönnen in Frage stellen. In mir entsteht das Gefühl der Degradierung meines klettertechnischen Könnens. Zur gleichen Zeit erhöhen die Tippgebenden ihr Können über meines und stellen mich in eine asynchrone hierarchische Beziehung.* Je größer die Diskrepanz, also je höher ich meine und je niedriger ich ihre klettertechnischen Kompetenzen einordne, desto eher interpretiere ich die Tippgeberei als Angeberei. Wie zu Beginn gesagt, reagiere ich nicht immer mit Ablehnung. In Fällen, in denen ich die Kletterkompetenz hoch oder gar höher einordne, erteile ich dem Tippgebenden unterbewusst die Legitimation mir weiter zu helfen; sogar ungefragt..


Die Legitimation zum Tippgeben

Zu Beginn ist klarzustellen, dass der Klettergrad nur ein Indiz für das technische Können eines Kletterers darstellt. Um die technische Versiertheit eines Kletterers einordnen zu können, muss ich dem Kletterer unabdingbar beim Klettern zugeschaut haben. Ich beobachte, wie effizient er sich in der Wand bewegt und wie viele Klettertechniken er anwendet. Zusätzlich beurteile ich, ob seine Beta, die für seine Körpergröße und Beweglichkeit gut geeignet zu sein scheint, auch für mich in Frage kommen könnte. Zu guter Letzt schätze ich sein allgemeines Kraftniveau und seinen Status bei der Perfektion seiner Beta ein. Das folgende Beispiel verdeutlicht die Einordnung der Kompetenz: Ein junger muskulär stärkerer Athlet mit einer wesentlich größeren Reichweite, steigt mein Projekt trotz seiner geringeren Felserfahrung im zweiten Versuch durch. Er klettert somit höhere Grade, aber klettert er deshalb auch besser? Das kann sein, muss aber nicht, weil zum guten Klettern noch viel mehr gehört als stark zu sein. Das Kletterkönnen wird eben auch durch Technik, Taktik, mentale Stärke und Beweglichkeit bestimmt. Im zuvor beschriebenen Fall fällt es mir schwerer, einen gegebenenfalls aufoktroyierten Tipp positiv zu bewerten, anzunehmen und auszuprobieren. Hingegen kann es sein, dass ich die Beta eines Kletterers in niedrigeren Graden liebend gerne annehme, da ich gesehen habe, wie effizient er sich bewegt und weiß, dass er diese Route schon seit Tagen projektiert und deshalb schon sehr viel ausprobiert hat, um für sich die leichteste Beta zu finden. Seine klettertechnische Kompetenz, insbesondere in dieser Route, schätze ich dann ziemlich hoch ein, sodass man mir Arroganz vorwerfen könnte, wenn ich seine Hilfe ablehnen würde.


Die besondere Crux bei heterogenen Kletterpaaren Gerade Kletterpaare mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Einschätzungen des Kletterkönnens bieten eine große Angriffsfläche für Reibereien. Ein typisches Beispiel ist, dass der Mann die gleiche Route schneller klettert und deshalb seine klettertechnische Kompetenz höher einschätzt als die der kletternden Frau. Diese Tatsache kann den Mann zur übermäßigen Tippgeberei verführen. Die Frau hingegen ist davon überzeugt, dass der Mann nur aufgrund seines höheren Kraftniveaus schwerer klettern kann und insgeheim davon überzeugt, mehr Tricks auf Lager zu haben. Beide degradieren sich sozusagen gegenseitig. Obwohl beide in der Lage sind, die Route zu klettern, wird die Frau vermutlich mehr Zeit benötigen, um die richtige Lösung zu finden. Da werden auch ungeduldige Zurufe des Mannes mit kraftbetonter Beta nicht helfen.

Beruhigend ist jedoch, dass der extreme Unterschied des Kraftniveaus und der technischen Fähigkeiten hauptsächlich bis zum mittleren Niveau existiert und sich danach Kraft- und Technikniveau annähern. Solange sollten sich alle Kletterpaare über ihre Stärken und Schwächen bewusst werden, diese akzeptieren und seine eigene Lösungen niemanden aufoktroyieren wollen.


Der beste Tippgeber

Zusammenfassend kann man sagen: Je ähnlicher sich Tippgeber und Tippnehmer sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die vorgeschlagene Beta zum Erfolg führt. Ähnlichkeiten sind bei der Körpergröße, Reichweite und Beweglichkeit, sowie bei besonderen Kraftstärken zu finden. Der beste Tippgeber ist also derjenige, der zum einen über ein sehr gutes Bewegungsgefühl verfügt, zum zweiten schon viele Details im Projekt kennt und zum dritten deinem Körperbau und Kraftniveau am nächsten kommt. Aber wie im restlichen Leben kommt es nicht nur darauf an, wer etwas sagt, sondern auch, ob in respektvoller Art und Weise und zu welchem Zeitpunkt.


Der geeignete Rahmen für Ratschläge

Oftmals neigen wir zu Feedback direkt nach einem Versuch, obwohl der Kletterer noch emotional aufgeladen ist und zwar offen für Bestätigung, aber noch nicht für Kritik ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob es sich um einen besonders schlechten Versuch handelt und der Ärger groß ist oder um einen besonders guten Versuch und die Freude immens. Geeignetere Momente sind viel eher diejenigen, in denen ich gut gelaunt herum tüftle, im Seil hänge oder zurück am Boden über die Route nachdenke.

Selbst wenn der richtige Zeitpunkt gewählt wird, kommt es weiterhin auf eine respektvolle Art und Weise des Ratschlags an. Dem Einstieg ins Gespräch schreibe ich dabei eine besondere Bedeutung zu. Der Tippgebende ist immer gut beraten, mir die Wahl zu lassen, ob ich überhaupt Hilfe haben möchte. Auch wenn ich selten ablehne, ist es dennoch respektvoll, mir die Wahl zu lassen. Weiterhin ist es förderlich, wenn sich der Tippgebende auf dieselbe oder gar niedrigere Stufe der Kletterkompetenz stellt, in dem er etwas sagt wie: “Ich bin auch unzählige Male dort rausgefallen, bis ich meine Lösung gefunden habe.” Oder: “Ich weiß wie ausdauernd diese Route ist. Mir hat geholfen…”. Der richtigen Art und Weise kann es ebenfalls dienlich sein, in der Ich-Perspektive zu reden. Nur weil du es so machst, heißt es nicht, dass es für mich die beste Lösung ist. Ist der Zeitpunkt gut gewählt und der Einstieg gelungen, liegt es in meiner Hand, ob ich der Umsetzung des Tipps einen Versuch gebe oder ob ich in wenigen begründeten Fällen wie Reichweite oder Beweglichkeit dem Ratschlag keine Chance gebe.


Gib allen Tipps eine Chance!

Der Mensch hat dreierlei Wege, klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, das ist der Edelste, zweitens durch Nachahmen, das ist der Leichteste, und drittens durch Erfahrung, das ist der Bitterste (Konfuzius *551 v. Chr. †479 v. Chr.). Jeder hat die freie Wahl, für welchen der drei Wege der Erkenntnis man sich entscheiden möchte. Nehmen wir einen Ratschlag an und probieren ihn aus, entscheiden wir uns für den zweiten, also den Leichtesten. Dieser Weg kann uns viel Kraft und Nerven ersparen und letztendlich wesentlich oder gar entscheidend zum Gelingen des Projekts in limitierter Zeit beitragen. Allzu oft tendiere ich dazu, gut gemeinte Tipps vorschnell abzulehnen und ertappe mich bei Gedanken wie “Jaa klar, mit deiner Kraft vielleicht” oder “Wenn ich deine Reichweite hätte”.

Doch egal wann, wie und von wem mir der Tipp gegeben wird, letztendlich entscheide ich, welchen der drei oben genannten Wege ich wähle. Mir hilft es meistens, kurz innezuhalten und mir über meine ablehnende Haltung bewusst zu werden. Erst nach dem Wechsel von der Beziehungsebene auf die Inhaltsebene, bin ich in der Lage, rational zu beurteilen, ob der Tipp einen Versuch wert ist. Manchmal erweist sich die Beta als untauglich, aber sehr oft werde ich für meine Offenheit gegenüber der neuen Beta belohnt. Und selbst wenn es die Beta eines Hulk-ähnlichen Typus ist und die Chancen auf Erfolg gering sind, frage ich mich, ob es nicht dennoch einen Versuch wert ist, bevor ich das Projekt schlimmstenfalls aufgeben muss oder im vorgegebenen Zeitrahmen nicht schaffe! Mittlerweile habe ich sehr oft die Erfahrung gemacht, dass ich zwar nicht die gesamte Beta anwenden kann, aber immerhin Teile davon. Die Griffreihenfolge stimmt vielleicht, aber ich brauche andere Tritte, einen kleinen Zwischengriff oder ich muss den Zug dynamischer ausführen. Funktioniert die vorgeschlagene Lösung, so habe ich mein Bewegungsrepertoire erweitert. Nur durch Ausprobieren können wir unseren Tunnel verlassen und aus vorhandenen Bewegungsmustern ausbrechen.


Technologieoffenheit im Klettersport

Die besten Kletterer sind sicherlich nicht besser geworden, indem sie sich in ihren Trainingsräumen isoliert haben, sondern ganz im Gegenteil offen für neue Ideen, Klettertechniken und Trainingsmethoden waren und diese sortiert, abgewägt und an eigene Bedürfnisse angepasst haben. Deshalb bin ich grundsätzlich für mehr Erfahrungsaustausch und mehr Verbesserungsvorschläge am Fels und in der Halle, sofern die Tippgeberei zu keiner Angeberei und Degradierung der Mitmenschen führt. Lasst uns zusammen stärker werden durch Respekt gegenüber individueller Leistungen, Hilfsbereitschaft und gegenseitiges Motivieren. Alléz! So wird die Bühne des Kletterns zur Plattform für Wissensaustausch.


* “Bewegungskompetenz - Sportklettern – Zwischen (geschlechtlichem) Können,

Wollen und Dürfen” von Babette Kirchner 2018



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