Eine lächerliche, verstörende oder ermutigende Aussage? Ich gehe ihr auf den Grund.
Voll in der Kletter-Bubble
Nicht zum ersten Mal hörte ich vor Kurzem den Satz: „8a kann doch jeder!“. Diese Aussage zeigt eindeutig, in welcher Kletter-Bubble manche Profis unterwegs sind. Sie trainieren mit gleichstarken am Moonboard, ziehen dort ein Benchmark nach dem nächsten, bouldern am Kilterboard auf 60 Grad, challengen sich an 6mm-Leisten und ziehen den 1-5-9er am Campusboard. Sie klettern an Felsen, an denen der 9er die beste Aufwärmroute darstellt und treffen abends Kletterer, die sich über Cruxsequenzen an Monos in Dächern oder 2-Meter-Dynos in ihren Projekten unterhalten. Je tiefer sie in die Welt enorm starker Kletterer eintauchen, desto weniger wundere ich mich, dass sie mit der Zeit den Eindruck bekommen, dass 8a doch jeder klettern kann.Â
9a - Das neue Normal?
Ganz vom Glauben bin ich selbst abgekommen, als jemand standfest behauptete, dass jeder in der Lage wäre FB 8a zu bouldern. Unnötig zu erwähnen, dass er selbst am liebsten französische 9er kletterte. Das Niveau eines FB 8a-Boulders ist in etwa mit einer 9a-Route zu vergleichen, von der wohl nicht nur ich weit entfernt bin. Obwohl man auf der Kletterer-Website 8a.nu durchaus den Eindruck bekommen könnte, dass 9a das neue „Normal“ darstellt und ich mich selbst oft an Orten aufhalte, an denen das Kletterniveau im Schnitt vielleicht 8a ist, kenne ich immer noch mehr Personen, die sich ausgiebiger über eine 7a freuen würden, als andere über eine 8a.
Der Gamechanger
Wenn 9a das neue Normal wäre, was mache ich dann falsch? Immerhin habe ich mit 12 Jahren angefangen regelmäßig zu klettern.Â
Ist mein Wille nicht stark genug? Muss ich lernen mehr Gas zu geben, noch mehr an mich zu glauben, öfter 100% zu geben? Sollte ich einmal mehr einsteigen, während sich alle anderen schon in den Feierabend verabschiedet haben und mich mit Harzerkäse als Abendessen zufrieden geben? Eigentlich schätze ich meinen Willen recht hoch ein, trainiere sehr regelmäßig und nutze jede Gelegenheit an den Fels zu fahren, um möglichst schwere Routen zu klettern.Â
Oder liegt es gar nicht an meinem Wille, sondern an meinem Talent?! Wäre ich doch nur gelenkiger, etwas beweglicher oder schnellkräftiger! Aber selbst wenn ich davon ausgehe „normal-talentiert“ zu sein, bleibt die Frage offen, warum ich von der 9a träume anstatt sie zu klettern.
Bleibt noch das Training! Vielleicht kann ich das noch optimieren! Muss ich mein Training nur anders gestalten? Muss ich öfter, spezifischer, variationsreicher trainieren, damit mir die 9a irgendwann gelingt? Doch auch nach 100 Youtube-Videos und 10 Kletterbüchern bin ich nicht viel schlauer. Sicherlich ist hier und dort noch Optimierungspotenzial, aber die Hoffnung auf den absoluten Gamechanger gab ich schon vor einiger Zeit auf.Â
Der Durchschnittsmensch
Wenn nun mein Ehrgeiz, Talent und Training mindestens durchschnittlich sind, zwar für die ein oder andere 8c aber lange nicht für einen 8a Boulder oder eine 9a-Route reichen, welchen Grad kann dann jeder klettern oder bouldern? Das ist eine wirklich schwere Frage, denn das Wort "jeder" schließt schließlich eine Menge Leute ein. Wenn man es genau nimmt, kann noch nicht einmal jeder einen dreier klettern, zum Beispiel auf Grund von körperlichen Beeinträchtigungen. Also lautet die Frage wohl eher: Welchen Grad kann der Durchschnittsmensch klettern? Aber wie definiere ich den Durchschnitt? Ist er männlich oder weiblich? Wie viel und welchen Sport hat er in seinem Leben gemacht? In welchem Alter hat er angefangen zu klettern? Hat der Durchschnittsmensch Kinder? War sie schon schwanger? Wie viele Stunden arbeitet er pro Woche? Wie viele Tage verbringt er oder sie am Fels?
Aber selbst wenn man einige Annahmen trifft wie: Kinderlose, 28-jährige, weibliche Kletterin, halbtags arbeitend, seit 10 Jahren 2-3 Mal wöchentlich kletternd; so bleibt es eine unbeantwortbare Frage, welchen Grad sie theoretisch klettern können sollte.Â
Die EinsichtÂ
Die Liste der einzubeziehenden Faktoren ist nämlich so lang, dass eine solche Aussage schier unmöglich zu treffen ist. Früher habe ich mir die Frage, welchen Grad jeder klettern kann, gerne selbst gestellt und im Freundeskreis diskutiert. Doch mit jedem Jahr an Lebenserfahrung, fiel mir die Antwort schwerer, bis ich zu dem Schluss kam, dass es völlig irrelevant ist, was jeder kann, sondern viel bedeutender was ich kann. Niemand sonst weiß besser, welche Voraussetzungen ich mitbringe, kann besser einschätzen, was ich leisten kann und will, welche Prioritäten ich im Leben setze und wie hart ich an mir arbeiten möchte. So individuell die leistungsbestimmenden Faktoren der DNA sein können, so individuell jeder Lebenslauf sein kann, so individuell ist der erreichbare Klettergrad. Wer das einsieht lernt die Leistung jedes motivierten Kletterers zu schätzen. Und das ist auch der Grund, warum ich so viele Freude daran habe Klettercoachings zu geben: Menschen dabei zu helfen über sich hinauszuwachsen und ihre individuellen Ziele zu erreichen egal auf welchem Niveau. Denn jeder bringt andere Voraussetzungen mit und jeder  setzt andere Prioritäten im Leben und deshalb ist es vollkommen okay, wenn nicht jeder 7a, 8a oder 9a klettert.
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